JvM Green Papers #1
Firstworld Fastenzeit
10 Dinge, die Corona mit uns macht.
Themenexpertise:Kulturelles Verhalten
THESE: Nicht alles ist schlecht. Wie die Zahlen schon zeigen, führt das Coronavirus nicht nur zu trockenem Husten und hohem Fieber, sondern auch zu positiven Nebenwirkungen bei den Werten, den Einstellungen und dem Verhalten der Deutschen.
Das komplette JvM Green Paper hier herunterladen:
Download Artikel (PDF, 135 KB)1. CORONA WECKT DEN MUT-BÜRGER IN UNS.
Corona hält uns in einem Spannungsverhältnis zwischen Hoffen und Bangen, zwischen tanzenden Menschen auf Balkonen und explodierenden Infektionskurven. Aber noch begegnen die Deutschen den immer größer werdenden Einschränkungen ihres Lebens relativ entspannt. Laut der Studie „The German Gratwanderung“ der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung mbH geben lediglich 8 % aller Befragten an, sich wegen des Coronavirus „sehr große Sorgen“ zu machen. 53 % der Deutschen gehen dagegen gelassen mit der Krise um.1
2. CORONA FÜHRT UNS VOR AUGEN, WIE VERWÖHNT WIR WAREN.
„Schon wieder zum Thai?“ – „Ich kann das Mittagstisch-Angebot in unserem Viertel echt nicht mehr sehen.“ – „Wann kommt in unserer Gin-Bar endlich eine neue Sorte?“ Diese noch vor wenigen Wochen zentralen Themen erscheinen uns heute absurd. Wir freuen uns jetzt auf die erste Pizza mit guten Freunden nach der Quarantäne – und gar nicht mal auf eine verrückte, sondern „nur“ auf eine gute Margherita. Wir sehen, wie wichtig das Echte und das Soziale beim Essen sind und wie sie das neueste Szene-Chichi locker in die Tasche stecken.2, 3
3. CORONA ZEIGT UNS, WAS WIR WIRKLICH BRAUCHEN. UND WAS NICHT.
Als einziges Land ersetzen die Deutschen bisher stationäre Käufe nicht vermehrt durch Online- Shopping. 15 % geben sogar an, weniger online zu kaufen als sonst. Denn „die Dinge des täglichen Bedarfs“ (vor allem Klopapier) bekommen wir weiterhin stationär. Auf überflüssigen Luxus verzichten wir in Zeiten von Zwangsurlaub und Kurzarbeit eher. Und: Wenn ich diesen Frühling zu Hause sitze, brauche ich auch keine Frühjahrsgarderobe. Corona könnte unser Konsumverhalten nachhaltig beeinflussen, sodass wir auch nach der akuten Krise weiter bewusster einkaufen.4
4. CORONA ZWINGT UNS, BESSER FÜR UNS ZU SORGEN.
„Meditieren – dafür bin ich echt zu sehr im Stress.“ – „Zum Sport kann ich mich einfach nicht aufraffen.“ In Zeiten vor Corona hatten wir oft das Gefühl, dass wir uns um unsere mentale und körperliche Gesundheit auch morgen noch kümmern können. Diese Prokrastination hat jetzt bei vielen ein Ende, denn sie erkennen, dass sie Corona und seinen Folgen nur gewachsen sind, wenn sie sich ganzheitlich gut aufstellen. Statt in der sozialen Isolation fett zu werden, wollen sie lieber fitter denn je in ihren Alltag zurückkehren, streamen Work-outs und laden sich Achtsamkeits-Apps herunter.5
5. CORONA BRINGT UNS DAZU, DEN MENSCHEN RAUSZULASSEN.
Jan Böhmermann bringt es auf den Punkt: „Es kommt in diesen Zeiten nicht darauf an, welche Menschen wir sein wollen, sondern welche Menschen wir sind.“ Plötzlich haben in Conference Calls alle die Kamera eingeschaltet und zeigen sich verstrubbelt und ungeschminkt in ihrem Wohnzimmer oder Hobbyraum. Wir richten Regeltermine zum virtuellen Gruppenkuscheln ein und gehen im Rahmen der Nachbarschafts-Challenge für das Rentnerpaar aus dem 2. Stock einkaufen. Nach Klopapier steigt jetzt auch der Absatz von Kondomen und Sex-Toys.6 Und die AfD ist in der Sonntagsfrage endlich wieder auf dem absteigenden Ast. Von heute auf morgen ist Solidarität statt Ego-Schaulaufen angesagt.7
6. CORONA ZEIGT, WELCHES GESCHLECHT WIRKLICH WICHTIG IST.
Die Supermarktverkäuferin, die Pflegerin – sie stehen auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In diesen Tagen sind es vor allem Frauen in klassisch von Frauen ausgeübten und bisher viel zu selten hoch angesehenen Berufen, bei denen die Kanzlerin sich öffentlich bedankt und denen die Leute von ihren Balkonen zujubeln. Frauen machen über 70 % in den systemrelevanten Berufen aus. Krankenpflegerinnen verdienen mit einem Jahresbruttoeinkommen in Höhe von knapp 38.600 € noch am besten, Kassiererinnen gehören mit etwa 26.800 € zu den Geringverdienerinnen. Damit liegen beide weit entfernt vom durchschnittlichen Jahresbrutto über alle Deutschen, das 2019 gerundet 50.300 € betrug. Eine große Chance, zu erkennen, auf wen es in der Gesellschaft ankommt, und zu realisieren, dass die Wirtschaft ohne Arbeitende und Konsumierende zum Erliegen kommt. 8, 9
7. CORONA MOTIVIERT UNS, ÜBER DIE BUBBLE HINAUSZUGUCKEN.
Natürlich haben auch wir Privilegierte unsere Probleme in der Coronakrise. Aber die, die vorher schon schlecht dran waren, die kein Homeoffice machen können, die sich plötzlich nicht mehr aus ihrem Wohnheim-Zimmer bewegen sollen, die auf das nächste Gehalt angewiesen sind: Für die ist die Bedrohung viel existenzieller. Das sollten wir bei allem Lob auf die Chancen in der Krise und bei aller Kritik an dem vermeintlich unverantwortlichen Fehlverhalten anderer nie außer Acht lassen. Also bedenken Sie: Nicht jeder hat die gleichen Voraussetzungen wie Sie und nicht jeder macht die gleichen Erfahrungen wie Sie. Aber wir stecken alle gemeinsam in dieser Krise. Nutzen Sie doch die unerwartet gewonnene freie Zeit, um mal bewusst über den Tellerrand zu schauen.10, 11
8. CORONA TREIBT UNS ZURÜCK ZUR MACHT DES FAKTISCHEN.
Von Politikern bis hin zu YouTube-Stars waren die letzten Jahre vor allem von polarisierenden Figuren geprägt, die frei nach dem Motto „je lauter, desto besser“ handelten. Jetzt scheint eine Renaissance des belastbaren Wissens, der Vernunft, der Expertise stattzufinden. Die promovierte Naturwissenschaftlerin Merkel übernimmt mit fürsorglicher Sachlichkeit12, verschiedene Virologe wie Prof. Drosten erklären besonnen13, und die Öffentlich-Rechtlichen informieren Millionen Bundesbürger in Nachrichten und Sondersendungen.14 Auf die Ära der Populisten folgen die neuen Stars der Aufklärung. Unser Ziel muss es sein, diese Faszination für das Faktische nachhaltig im kollektiven Denken zu verankern.
9. CORONA BEWEIST UNS, WIE AGIL UND KREATIV WIR SEIN KÖNNEN.
VW erwägt, Medizintechnik herzustellen15, Mey stellt von Dessous auf die Herstellung von Mundschutzen für umliegende Kliniken um.16 Restaurants um die Ecke und sogar ein Stripclub in Portland17 bieten plötzlich Essenslieferungen an. Ganze Unternehmen schaffen es binnen kürzester Zeit, auf Homeoffice umzustellen, und Bedenkenträgern hört keiner mehr zu. Das sollte uns auch in der Zeit nach der Krise Veränderungen mutiger angehen lassen.
10. CORONA FORDERT UNS ZU LANGFRISTIGEM DENKEN HERAUS.
In unserem gefühlt täglichen „Kampf ums Überleben“ denken wir über weitreichende Themen wie die globale Erwärmung weniger nach. Gute Nachrichten über positive Auswirkungen von Corona auf die Umwelt dürften diese Tendenz noch verstärken. Jetzt rasant getroffene Entscheidungen – die kurzfristig mit Sicherheit ihre Richtigkeit haben – werden sich später nur schwer wieder rückgängig machen lassen. Deshalb sind wir schon heute gefordert, aus dem taktischen immer wieder in den strategischen Modus zu wechseln, denn im Ausnahmezustand können wir Weichen nicht überlegt stellen.18
FAZIT: Jetzt gibt sich zu erkennen, was nicht auf soliden Beinen steht. Von der körperlichen Verfassung über Beziehungen über Firmen – alles, was nicht stabil ist, kommt in Bedrängnis.
Corona gibt uns aber auch die Chance, nach der Krise in einer besseren Welt mit mehr Solidarität, echter Gleichberechtigung sowie mehr monetärer und ideeller Wertschätzung für die wahren Stützen unserer Gesellschaft zu leben. Voraussetzungen dafür ist, dass wir nicht den Fehler machen, zu sehr von unseren Befindlichkeiten auf die anderer zu schließen. Die große Herausforderung nach Corona wird sein, geänderte Verhaltensweisen beizubehalten statt umso stärker in alte Muster zurückzuverfallen. Bleiben wir gesund und packen es an!
https://www.wuv.de/medien/unser_online_verhalten_in_corona_zeiten
https://www.n-tv.de/panorama/Run-auf-Kondome-und-Erotik-Spielzeuge-article21658837.html
https://de.statista.com/infografik/21189/abschneiden-der-afd-bei-der-sonntagsfrage/
https://www.sueddeutsche.de/medien/corona-drosten-virologe-1.4843374
https://www.ft.com/content/19d90308-6858-11ea-a3c9-1fe6fedcca75